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© Uwe Toelle | SuperIllu
Großer Rückblick

Gregor Gysi zittert um sein Lebenswerk

Die Linke stürzte auf unter fünf Prozent und zerfleischt sich in einem erbitterten Richtungsstreit. Vielleicht bleibt bald nichts von dem übrig, was Gysi einst aufbaute.

Am 16. Januar 2023 wurde Gregor Gysi 75 Jahre alt. Die meisten Politiker in seinem Alter sind längst in Rente. Dass er nicht aufhören will, liegt auch daran, dass er fürchtet, sein politisches Lebenswerk, die Linke, könnte untergehen, wenn er nicht mehr da ist.

Gregor Gysi in wechselnden Funktionen

25 Jahre lang, von Wendejahr 1989/90 bis 2015, hatte Gysi in wechselnden Funktionen, aber immer als der populäre Frontmann, die Geschicke der Partei bestimmt. Als faktischer Konkursverwalter der SED hielt er die demoralisierten Genossen nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur davon ab, sich einfach aufzulösen. Und überzeugte sie, als „Partei des demokratischen Sozialismus“ PDS weiterzumachen. Mit Hungerstreiks kämpfte er dafür, Teile des Parteivermögens zu retten. Und politisch darum, die PDS als linken „Anwalt des Ostens“ neu aufzustellen.

Das zog zunächst viele Wähler an, die mit dem Verlauf der Wiedervereinigung unzufrieden waren oder sich als Ostdeutsche von den „Wessis“ herabgesetzt fühlten. Aber auch manchen, der den wortgewandten Gysi einfach witzig fand.

Die gesamtdeutsche Partei links der SPD

2007 fädelte Gysi (gemeinsam mit Klaus Ernst, Lothar Bisky und Oskar Lafontaine) die Vereinigung der PDS mit der westdeutschen WASG zur Partei Die Linke ein und schuf eine gesamtdeutsche Partei links der SPD. Mit Ergebnissen bis zu 11,9 Prozent (Bundestagswahl 2009) nahm die Linke dieser erheblich Stimmen ab und sorgte dafür, dass die SPD um ihren Status als Volkspartei zittern musste.

Langjähriger Fraktionschef und Oppositionsführer

Von 2009 bis 2015 war Gysi alleiniger Fraktionschef und als Oppositionsführer im Bundestag (seit 2013) praktisch täglich in den TV-Nachrichten. War es ein Fehler, dass er mit seinem Rücktritt als Fraktionschef 2015 die Zügel aus der Hand legte?

Die Linke zerstritten?

Seitdem macht die Linke einen immer zerstritteneren Eindruck - und fährt auch immer schlechtere Wahlergebnisse ein (von den Thüringer Landtagswahlen 2019 mal abgesehen). Auf Bundesebene hat die Linke in Umfragen aktuell weniger als fünf Prozent. Dass sie überhaupt noch im Bundestag sitzt, hat sie wieder einmal nur Gysi zu verdanken. Nur weil er in seinem fortgeschrittenen Alter 2021 noch einmal antrat und in Berlin ein Direktmandat holte, reichte es trotz nur 4,9 Prozent für einen Einzug in Fraktionsstärke.

Richtungsstreit um Sahra Wagenknecht

Zersetzend wirkt weiter der Richtungsstreit um Sahra Wagenknecht. Sie wirft der Parteispitze vor, diese würde sich statt für kleine Leute lieber für großstädtische „Lifestyle-Linke“ einsetzen. Und sammelte u.a. mit Kritik an der „grenzenlosen“ Asylpolitik der Partei statt bei Linken vor allem bei AfD-Anhängern Punkte. Anders als die Partei- und Fraktionsspitze sitzt sie - obwohl sie gar kein Parteiamt hat - in vielen Talkshows. Vor einem Ausschluss, wie ihn viele Linke fordern, schreckt die Parteispitze bisher zurück. Eine Spaltung könnte das Ende sein.

Neuer Wind der Partei

Während sich die „rote Sahra“ damit in die Liste der „beliebtesten Politiker“ katapultierte, ist der Bekanntheitsgrad der Vorsitzenden der Linkspartei, Janine Wissler und Martin Schirdewan bisher gering. Ob sie es noch schaffen, das Ruder herumzureißen? Lesen Sie dazu unser Interview mit Martin Schirdewan, das unten verlinkt ist. Wie Gysi selbst die Sache sieht, erfahren Sie weiterführend in seinem Gastbeitrag.

© Yorck Maecke | SuperIllu

"Die Linke ist in einer existenziellen Krise"

Beitrag von Gregor Gysi exklusiv für SuperIllu

Dieser Text ist eine freie Meinungsäußerung des Kolumnisten und spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wider.

Es ist nach der Deutschen Einheit gelungen, in der Bundesrepublik eine Partei links von der Sozialdemokratie in der Gesellschaft zu verankern, die innerhalb und außerhalb der Parlamente, in Regierungsverantwortung und in Opposition für eine konsequente Politik des Friedens, von mehr sozialer Gerechtigkeit, mehr ökologischer Nachhaltigkeit in sozialer Verantwortung und mehr Gleichstellung von Frau und Mann und von Ost und West streitet.

In diesen Tagen ist die Linke in einer existenziellen Krise und unzureichend in der Lage, die Interessen der von ihr vertretenen gesellschaftlichen Gruppen insbesondere bundespolitisch zum Tragen zu bringen. Auch wenn zweifellos jedes Mitglied unserer Partei gefordert ist, über die Ursachen und auch den eigenen Anteil an dieser Entwicklung nachzudenken, bringen Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Spaltungsüberlegungen für die Partei keine Perspektive.

Die Partei, jedes Mitglied muss sich auf eine zentrale Lehre der Arbeiterbewegung besinnen: Solidarität – gerade auch miteinander – macht stark.

Die Quellen, Herangehensweisen, Ziele linken Denkens und Handelns haben sich in den letzten Jahren weiter differenziert. Diese Verschiedenheit, die auch eine Generationenfrage ist, kann man nicht wegdiskutieren oder gar wegbeschließen, sondern muss sie zunächst akzeptieren. Die Linke darf diese Unterschiede aber nicht länger zu unüberwindbaren Hürden werden lassen, sondern muss Tendenzen zu einer inneren Ab- und Ausgrenzung überwinden.

In den Kernfragen der gesellschaftlichen Entwicklung des finanzmarktgetriebenen neoliberalen Kapitalismus mit seinen verheerenden Konsequenzen für immer mehr Menschen ist der Vorrat an gemeinsamen Positionen in der Linken viel größer als das Trennende. Diese gemeinsamen linken Antworten auf die großen Krisen müssen wieder im Vordergrund linker Politik stehen. Die Mehrheit der Menschen in unserem Land droht in diesen Krisen in eine immer dramatischere soziale, wirtschaftliche, finanzielle und moralische Situation zu geraten, was für Millionen schon heute eine direkte Existenzbedrohung darstellt. Sie erwarten zurecht von der Linken ein entschlossenes und geschlossenes Agieren in ihrem Interesse.