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Wiedervereinigung

33 Jahre Deutsche Einheit: Die ehrliche Bilanz

Der Fall der Berliner Mauer 1989 gilt nicht nur in Deutschland, sondern weltweit bis heute als der größte Zeitenwandel der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Menschen, die in der DDR im Herbst 1989 demonstrierten, waren sich keineswegs einig, wohin die Reise politisch gehen sollte. Die einen träumten von einer Demokratisierung des Sozialismus, die anderen von dessen Ende. Die Bundesrepublik war nicht wenigen der Bürgerrechtler, die im Herbst 1989 als Erste auf die Straße gingen, kein Vorbild, sondern ein Graus. Hunderttausenden anderen Ostdeutschen, die in derselben Zeit in den Westen flohen, galt sie dagegen als das gelobte Land. Der größte Teil der Ostdeutschen ging aber weder auf die Straße noch in den Westen, sondern verfolgte die dramatischen Wochen zu Hause vor dem Fernseher. Und es gab auch Menschen, die die DDR gerne so erhalten hätten, wie sie war. Nicht wenigen machte die rasante Entwicklung zumindest Angst.

Die gute Nachricht zuerst: Ein großer Teil dessen, was sich die Deutschen in Ost und West am Tag der Wiedervereinigung, am historischen 3. Oktober 1990 erhofften, ging in Erfüllung – wenn auch etwas später, etwas mühsamer und vielleicht auch nicht so vollständig, wie wir uns das vor 33 Jahren wünschten… Worüber wir uns heute freuen. Was uns ärgert. Was uns Sorgen bereitet. Und worüber wir uns streiten. Hier die wichtigsten Fakten zum Mitreden, zusammengestellt von SuperIllu-Politikchef Gerald Praschl.

Arbeitslosenquote in West- und Ostdeutschland von 1994 bis 2023

Worüber wir uns freuen

Auf dem Arbeitsmarkt brummt es

Die jahrzehntelange Misswirtschaft der SED führte 1990 zu einem Zusammenbruch weiter Teile der DDR-Wirtschaft. Massenarbeitslosigkeit war im Osten nach 1990 für lange Zeit das drückendste Problem von Millionen. Heute brummt der Arbeitsmarkt in Ost wie West, der Unterschied in der Arbeitslosenquote ist nur noch gering.

Die Gebiete mit der höchsten Arbeitslosigkeit liegen nicht mehr im Osten, sondern in ehemaligen Bergbauregionen im Westen, u a. in Gelsenkirchen und Saarbrücken (10 bis 14%). Im Osten ist die Arbeitslosigkeit u. a. in der Uckermark und in der Altmark, beide strukturschwach, noch hoch (ca. 10%) – während in weiten Teilen des Ostens inzwischen Arbeitskräftemangel herrscht.

Durchschnittlicher Rentenzahlbetrag der Versicherten in Ost und West

Die Renten sind endlich angeglichen

Es dauerte unendlich lange, aber seit 1. Juli 2023 sind die Rentenwerte in Ost und West endlich gleich. Ob in Ost oder West – Rentner bekommen je erworbenen Rentenpunkt (den man für ein Jahr Arbeit zum Durchschnittslohn gutgeschrieben bekommt) genau gleich viel, aktuell 37,60 Euro pro Monat. Zum Vergleich: 1991 gab es pro Rentenpunkt im Osten nur 10,79 Euro (damals 21,11 D-Mark; im Westen gab es das Doppelte, 41,44 D-Mark). 

Weil Ostdeutsche meist früher in den Job einstiegen und Ost-Frauen, anders als im Westen, häufig selbst einen vollen Rentenanspruch erwarben, sind die im Osten ausbezahlten Durchschnittsrenten heute sogar höher als im Westen.

Die Ost-Wirtschaft ist bereits auf West-Niveau – wenn auch nur auf dem von 1989

Das „Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner“ (BIP/Einwohner) ist die wichtigste Messgröße der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft. 1991 betrug das „BIP pro Einwohner“ im Osten nur etwa 35 Prozent von dem der westlichen Bundesländer. Inzwischen liegen die meisten östlichen Bundesländer im Vergleich zu den westlichen Bundesländern (unter denen es ebenfalls erhebliche Unterschiede gibt) bei ca. 75 bis 90 Prozent des Westniveaus. Mit 35909 Euro hat das wirtschaftlich stärkste östliche Bundesland, Sachsen, nominell fast doppelt so viel BIP/Einwohner wie die alte Bundesrepublik von 1989 (damals 36200 D-Mark, entspricht ca 18100 Euro). Weil die Kaufkraft einer D-Mark von 1989 ziemlich genau der Kaufkraft eines Euros heute entspricht, ist Sachsen mittlerweile ebenso wirtschaftsstark, wie es die alte Bundesrepublik 1989 war. 

Durchschnittsvermögen

Was uns ärgert

Der große Unterschied beim Besitz

Weil es zur DDR-Zeit kaum Möglichkeiten gab, Vermögen aufzubauen, gingen die meisten Ostdeutschen 1990 nahezu mittellos in die deutsche Einheit. Eine reiche Unternehmerschicht gab es ohnehin nicht, weil ein Großteil des Firmen- und Großgrundbesitzes zur DDR-Zeit von der SED enteignet worden war. Inzwischen konnten viele Ostdeutsche Vermögen bilden. Dennoch ist das  durchschnittliche Vermögen im Osten immer noch weit geringer als das im Westen. Besonders deutlich ist der Unterschied bei Menschen, die heute im Rentenalter sind. Bei den Jüngeren ist der Unterschied geringer. Angleichen  dürfte sich das aber erst in künftigen Generationen. Die Grafik, basierend auf Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, zeigt die aktuelle Lage.

Noch immer gibt es zu wenig ostdeutsche Chefs

Die Ostdeutschen wollten 1990 einen Elitenwechsel. Und sie wollten schnell „zum Westen“ gehören. Und dieser Westen war damals der streitbaren Meinung, dass er sowieso alles besser kann. Das waren die Gründe, wieso im Osten schnell fast nur Westdeutsche im Chefsessel saßen. Auch Ostler, die damals in den Westen gingen, bekamen dort lange wenig Chancen, zu Chefs aufzusteigen. Eine Generation später sieht es leider nicht viel besser aus. Nach einer vom Ost-Beauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider, 47, SPD vorgestellten Studie der Universität Leipzig stammen heute nur 4,3 Prozent aller Führungskräfte in der gesamtdeutschen Wirtschaft aus dem Osten (inklusive Berlin). Dem Bevölkerungsanteil der sechs östlichen Bundesländer (also ebenfalls inklusive Berlin) nach müssten es fast 20 Prozent sein. Besonders traurig sieht es bei der Bundeswehr aus. Von über 200 Generälen sind nur eine Handvoll aus dem Osten. Schneider kritisiert, Ostdeutsche würden oft übergangen, weil sich (West-) Chefs ihre Nachfolger lieber „nach Ähnlichkeit“ aussuchten. Ostdeutsche schaffen es – auch wegen eines schmaleren Geldbeutels – seltener auf Elite-Universitäten. Vielen Ostdeutschen fehle auch das Selbstbewusstsein, einen Chefposten einzufordern. Sie würden bescheiden oft lieber darauf warten, „bis sie gefragt werden“, so Schneider.

Die Landkarte der „Zukunftsfähigkeit“

Was uns sorgt

Der Osten ist schlechter für die Zukunft gewappnet

Wirtschaftswissenschaftler werteten im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung viele wirtschaftliche Schlüsseldaten aus, die für die „Zukunftsfähigkeit“ und wirtschaftliche Widerstandskraft einer Region wichtig scheinen. Dazu gehören u.a. der Anteil junger Beschäftigter, die Zahl der Patentanmeldungen, die Menge der Beschäftigten in Wissensberufen, der Ausbaustand von schnellem Internet und die Anziehungskraft für ausländische Hochqualifizierte.

Dabei schneidet der Osten deutlich schlechter ab als der Westen. In der Grafik blau eingefärbt sind die Regionen, in denen die Wissenschaftler „besondere strukturelle Herausforderungen“ sehen. Deutlich treten dabei die Umrisse der alten DDR zum Vorschein. Die violett markierten Gebiete, fast alles westdeutsche Großstädte, aber mit Jena, Leipzig, Dresden, Potsdam und Berlin auch fünf ostdeutsche Städte, sehen die Forscher dagegen als „Innovationspole“. Grün eingezeichnete Gebiete gelten als „resilient“ – also gut aufgestellt und für alle Krisen und Veränderungen gewappnet. Fast ganz Süddeutschland zählt dazu, im Osten immerhin der Landkreis Teltow-Fläming im Berliner „Speckgürtel“. „Partielle Anpassungshemmnisse“ sieht die Studie dagegen in weiten Teilen Nord- und Westdeutschlands.

Lebenshaltungskosten im Städtevergleich

Die Löhne sind immer noch niedriger

Im Osten gibt es mehr Firmen als im Westen, die keine Tariflöhne zahlen. Außerdem gibt es nicht so viele hoch bezahlte Spitzen-Jobs wie im Westen. Das sind zwei der Gründe, die dazu führen, dass die Durchschnittslöhne Ost immer noch um deutlich unter Westniveau liegen. 

…aber die Lebenshaltungskosten auch

Dazu tragen insbesondere die günstigeren Mieten und Kaufpreise von Immobilien sowie die etwas niedrigeren Preise für Dienstleistungen im Osten bei. So bräuchte man in München jährlich 48614 Euro, um dort genau so gut zu leben, wie für 30000 Euro/Jahr in Dresden. Die Gründe für den großen Unterschied: Die Mieten in München sind 110 Prozent höher als in Dresden; Lebensmittel sind rund 17 Prozent teurer. Quelle ist ein Kostenvergleich der Finanzplattform Financescout24.

Worüber wir uns streiten

Wie sehr Ost und West trotz aller Unkenrufe heute zusammengewachsen ist, zeigt sich auch daran, dass an Stammtischen in Ost UND West oder in den sozialen Medien mit denselben Argumenten um dieselben wichtigen Themen gestritten wird

Migrations-Streit

Die Zahl illegaler Migranten aus Nahost und Afrika nimmt schon wieder rasant zu. Die EU wirkt dabei hilflos wie 2015. Alt-Bundespräsident Joachim Gauck fordert eine „Begrenzung der Migration“; Deutschland brauche Zuwanderung, aber keine „Zuwanderung in unsere Sozialsysteme“. Positiver ist die Stimmung gegenüber legalen Arbeitsmigranten aus anderen EU-Ländern und außereuropäischen Ländern sowie gegenüber den Ukraine-Flüchtlingen. Insgesamt verändert die enorme Zuwanderung unser Land.

Corona-Streit

In der Coronakrise machte die Regierung keine gute Figur. Unser Land war auf eine solche Pandemie kaum vorbereitet. Viele Schutzmaßnahmen wirkten hilflos, andere übertrieben. Für Wut bei den Betroffenen sorgten die Einschränkungen für jene, die sich nicht impfen lassen wollten. Umgekehrt waren viele, die Angst vor einer Infektion hatten, auf die Impf- und Maskenverweigerer wütend. Die Pandemie ist weitgehend vorbei, aber die gesellschaftlichen Wunden sind zum Teil geblieben.

Putin-Streit

Russlands Überfall auf die Ukraine ist ein abscheuliches Verbrechen – da sind sich die meisten Deutschen einig. Und auch darin, dass man ukrainische Flüchtlinge, die in Deutschland ein gutes Image haben, aufnehmen muss. Dann jedoch beginnt der Streit. Nicht wenige hätten sich am liebsten gar nicht eingemischt. Andere unterstützen die Forderung der Ukraine nach weiteren schweren Waffen, um sich zu verteidigen. Und wieder andere fordern „Solidarität mit Augenmaß“ und warnen vor einer Eskalation des Krieges.

Klima-Streit

Dass sich das Klima aufgrund des hohen Ausstoßes an Kohlendioxid verändert (und das nicht zu unseren Gunsten), ist noch Konsens. Aber dann hört es auch schon auf. Die einen kleben sich in Weltuntergangsstimmung an Straßen fest („Letzte Generation“, Foto) und fordern einen radikalen Sofort-Stopp aller Emissionen. Andere sind der Meinung, man könne eh nichts tun. Eine breite Mehrheit der Deutschen in Ost und West hält sich mit ihren Meinungen irgendwo dazwischen auf.

Der Kulturkampf zwischen Linken und Konservativen

Die zwei Personen rechts sind nur Beispiele für zwei Gegenpole: Carola Rackete, 35, die Migranten im Mittelmeer rettete und dafür vor allem von großstädtischen Grünen und Linken gefeiert wurde. Hubert Aiwanger, 52, der nicht nur in Bayern viele vor allem ländliche Konservative begeistert, denen „die da oben in Berlin“ zu „spinnert“ sind. Der Streit um Schicksalsthemen ist zum Kulturkampf zwischen verfeindeten Milieus geworden, die sich gegenseitig vorwerfen, aus finsteren Motiven unserem Land absichtlich schaden zu wollen.