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Meine Flucht in den Westen

Peter Escher: Die ganze Wahrheit

MDR-Moderator Peter Escher ist im September 1989 mit seiner Familie über Ungarn in den Westen geflohen

Mir ging es in der DDR wirtschaftlich gut, und ich wurde politisch nicht verfolgt. Schon mit Anfang 20 war ich der jüngste Nachrichtensprecher bei Radio DDR. Aber Mitte der 80er-Jahre war bei mir das Maß voll, ich wollte nicht mehr täglich Jubelmeldungen und Lügen verlesen. 1986 hörte ich deshalb beim DDR-Rundfunk auf und zog mich in die Kultur zurück, arbeitete im Berliner Künstlerclub „Möwe“, managte Jazzbands und Kabarettisten. Aber Radio war mein Traumjob, und ich konnte als freier Mitarbeiter bei DT64 anfangen.

Der Frust

Die Stimmung im Land wurde immer gereizter. Jeder fragte sich, wie es mit der DDR weitergehen soll. Immer mehr Freunde stellten Ausreiseanträge oder hatten das Land bereits verlassen. Wir wohnten in Berlin-Treptow unmittelbar an der Mauer. Als Normalität konnten wir das nie empfinden. In unserem Kiez war alles schmutzig und verfallen. Bei einem Spaziergang hätte es fast unseren einjährigen Sohn erschlagen, als ein riesiger Brocken Putz von einem Balkon auf den Bürgersteig krachte. Und so sah es leider fast im ganzen Land aus.

Die Entscheidung

Den Gedanken, die DDR zu verlassen, hatten wir schon länger. Im Sommer 1989 gaben dann viele Dinge den letzten Ausschlag. Der Urlaub in Mecklenburg mit einer katastrophalen Unterkunft und einem Dorf-Konsum, in dem es nur süßen Wein, kaum eine Fischbüchse und die „Wochenpost“ nur unterm Ladentisch gab. Im Ostfernsehen wurden Produktionserfolge vermeldet, im Westfernsehen gab es stündlich neue Meldungen über die besetzte Botschaft in Budapest und die Massenflucht von 600 DDR-Bürgern in Sopron.

Meine Frau Ulrike und ich waren fest entschlossen, die DDR über Ungarn zu verlassen. Daheim lagen schon seit Monaten die Visa für eine Woche Budapest-Urlaub, den wir jedes Jahr gemacht haben. Und diesmal sollte es eine Reise ohne Rückkehr werden. Wir mussten uns sehr schnell entscheiden. Inzwischen hatte DT64 meinen Resturlaub gestrichen, weil ich für Susanne Daubner die Nachrichtenschichten übernehmen sollte. Sie war wenige Tage zuvor über Jugoslawien in den Westen geflohen. Sie ist übrigens heute Sprecherin bei der Tagesschau.

Der Aufbruch

In unseren Trabi packten wir nur das Nötigste, es sollte ja nach einem Urlaub aussehen, das heißt Sommersachen und das Lieblingsspielzeug unserer Kinder. Wichtige Dokumente versteckten wir heimlich bei unseren Eltern. Über die Fluchtpläne haben wir mit niemandem gesprochen, weil wir keinen mit unseren Gedanken belasten oder gar in Gefahr bringen wollten. Was uns dabei getröstet hat: Unsere Eltern waren bereits Rentner, und wir hatten die Hoffnung, sie bald wiederzusehen. Es fiel schon schwer, die Wohnung einfach zuzuschließen und alles zurückzulassen. Aber in unserem Haus wurde jeder Schritt genauestens überwacht. Gerade erst hatten Nachbarn die DDR illegal verlassen und vorher ihre Wohnung komplett ausgeräumt.

Die Zweifel

Natürlich haben wir immer wieder überlegt, ob wir das Richtige tun. Den ersten Zwischenstopp machten wir in Dresden bei einer Tante. Die merkte sofort, dass bei uns die Nerven blank lagen und war am Ende dann die Einzige, die unseren Plan kannte. Von da aus ging es weiter Richtung Tschechoslowakei. Wir hatten furchtbares Wetter, es goss in Strömen, die Scheiben waren beschlagen, die Straßen eine Katastrophe. Aber unsere Hauptsorge war natürlich, ob die uns überhaupt über die Grenze lassen. Ein Reisevisum für Ungarn hatten wir zwar. Aber ob dieses Stück Papier jetzt noch zählte, nachdem immer mehr DDR-Bürger versuchten, sich über Ungarn in den Westen abzusetzen? Wir hatten auch gehört, dass trotz der Reform-Regierung, die seit dem Sommer in Ungarn an der Macht war, noch im August ein DDR-Bürger an der ungarisch-österreichischen Grenze ums Leben kam. Wir wollten auf keinen Fall ein Risiko für unsere zwei Kinder, neun und ein Jahr alt. Es nachts durch den Wald über die Grenze zu versuchen, kam deshalb für uns nicht in Frage.

Die Ankunft

Es wurde schon dunkel, der Regen immer stärker. Unser Jüngster weinte viel, er hatte Durchfall. Wir merkten: Heute kommen wir nicht mehr weiter. Wir suchten elend lange nach einem Quartier, nichts war frei, am Schluss schliefen wir in Bratislava in der Wäschekammer eines Studentenwohnheims. Am nächsten Tag erreichten wir endlich Budapest. Die bundesdeutsche Botschaft war wegen Überfüllung geschlossen, und wir wurden zu einem Notaufnahmelager geschickt. Dort standen im Umkreis schon Tausende DDR-Autos, und Stasileute fotografierten jeden Neuankömmling. Bis dahin hatten wir ja noch Hoffnung, einfach wieder nach Hause zu fahren, wenn das hier nicht klappte mit der Ausreise. Jetzt war uns klar, ein Zurück gab es nicht mehr.

Das Warten

Weil unser Jüngster inzwischen sehr krank war, übernachteten wir nicht im Zelt, sondern bekamen mit vielen anderen Familien eine feste Unterkunft am Stadtrand von Budapest zugewiesen. In dieser Pension wohnten aber auch ganz normale DDR-Urlauber. Klar, dass wir sehr schnell miteinander ins Gespräch kamen. Und jeden Tag wechselten Urlauber die Seite, beschlossen ganz spontan, unseren Weg mitzugehen. Mehrere Wochen verbrachten wir dort, eine Zeit der Ungewissheit. Jeden Tag bekamen wir sehr widersprüchliche Meldungen. Mal hieß es, keiner von uns dürfe direkt ausreisen. Sondern wir müssten zunächst zurück in die DDR und dort Ausreiseanträge stellen. Mal hieß es, die Grenzöffnung sei nur noch eine Frage von Tagen. Vor dem Tor des Notaufnahmelagers hatte die DDR-Botschaft doch tatsächlich einen Wohnwagen aufgestellt. Hier wurde die Werbetrommel dafür gerührt, dass wir wieder in die DDR zurückkehren sollten. Ich denke, diese Kampagne war recht erfolglos. Die Mit­arbeiter der bundesdeutschen Botschaft und des Malteser Hilfsdienstes kümmerten sich intensiv um uns Flüchtlinge. Wir wurden immer mit dem Nötigsten versorgt und hatten inzwischen auch einen bundesdeutschen Pass. Jeden Tag kamen Hunderte neuer Fluchtwilliger dazu. Das gab uns natürlich Zuversicht. So viele Menschen konnten sie doch nicht festnehmen und in die DDR zurückbringen.

Die Tragik

Hart waren für uns die Anrufe nach Hause, wo wir unseren Eltern und Freunden schließlich doch mitteilen mussten, wo wir sind und was wir vorhaben. Es gab viele Tränen auf beiden Seiten und natürlich auch Ängste. Mein Schwiegervater zum Beispiel war früher Lehrer und SED-Mitglied. Bekamen unsere Familien Probleme, weil wir die DDR verlassen haben?

Der Startschuss

Nach drei quälend langen Wochen ging es tatsächlich los. Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen hörten wir im Notaufnahmelager eine Radio-Ansprache von Ungarns Außenminister Gyula Horn. Am 10. September 1989, abends um sieben gab er bekannt, dass um Mitternacht die Grenze nach Österreich für alle Ausreisewilligen geöffnet wird. Die meisten der Flüchtlinge fuhren sofort los. Wir begannen unser Abenteuer Zukunft am nächsten Morgen. Bis zum Aufnahmelager im bayerischen Deggendorf waren wir den ganzen Tag unterwegs. Was uns auf dieser Fahrt besonders beeindruckt hat, war, wie viele Menschen an dieser Massenflucht begeistert Anteil nahmen und wie perfekt alles organisiert war. Überall in Österreich gab es Zwischenstopps für freies Tanken, wir wurden mit Essen, Trinken und positivem Zuspruch versorgt. Das Lager in Deggendorf war hoffnungslos überfüllt, und wir brauchten fast zwei Tage, um alle Formalitäten zu erledigen. Aber egal, für uns zählte nur, dass wir endlich in Freiheit waren.

Das neue Leben

Unser Ziel hieß Rödermark bei Frankfurt. Dort wurden wir schon sehnsüchtig von Ulrikes Verwandtschaft erwartet. Ihre Cousine Iris ist mit dem Schlagerstar Graham Bonney verheiratet. Die beiden haben uns beim Neuanfang unheimlich unterstützt. In ihrem Haus fanden wir unsere erste Bleibe und viel Hilfe. Ich habe sofort alle Rundfunkstationen in der Umgebung abtelefoniert und konnte schon eine Woche später als Moderator bei einem kleinen bayerischen Privat-Radio anfangen. Nebenher vertrieb ich Jeans, um das bescheidene Familienbudget etwas aufzubessern. Unser neues Leben hatte begonnen. Nur Wochen später fiel die Mauer. Aber trotzdem haben wir unsere Flucht nie bereut.

Prominente DDR-Flüchtlinge

Gerit Kling und Anja Kling

Die Kling-Schwestern flüchteten 1989 in den Westen, nachdem die Tschechen plötzlich ihre Grenzen geöffnet hatten. „Wir sind einfach mit dem Trabi über die Grenze gefahren. Das Schlimmste, was uns hätte passieren können, wäre gewesen, dass man uns nach Hause geschickt hätte. Die Gefahr, dass man uns erschießt oder ins Gefängnis steckt, bestand an diesem Tag nicht. Und dieses Risiko wäre ich als Anja Kling auch nie im Leben eingegangen. Da hätte ich viel zu viel Angst gehabt.“, sagt Anja Kling im SUPERillu-Interview. Die Flucht war ganz spontan. Am Nachmittag wurde entschieden, und zwei Stunden später startete die Fahrt in die Freiheit, erinnert sich die damals 19-Jährige.

Kai Pflaume

Jetzt ist er der Experte für Liebesfragen im TV. Auch Kai Pflaume hat der DDR in den letzten Monaten vor dem Mauerfall den Rücken gekehrt. Im SUPERillu-Gespräch erinnert er sich:

„Meine Eltern haben immer zu meinem Bruder und mir gesagt, wenn es einmal die Chance gibt, in den Westen zu gehen, nutzt die Chance. Wenn ihr es nicht tut, tut es niemand. Meine Großeltern wollten weg, meine Eltern waren an dem Punkt, wo sie die DDR verlassen wollten - aber keiner von ihnen hat es aus verschiedenen Gründen in die Tat umgesetzt. Ich war im Sommer 89 in Ungarn, zusammen mit meinen beiden Cousins aus Frankfurt am Main. Und da war das Thema ja recht präsent. Da wollte ich aber noch nicht fliehen und bin wieder zurück nach Leipzig. Ich habe für mich den richtigen Abschluss gebraucht, ich wollte nicht so überstürzt meine Heimat verlassen. Und da dachte ich erst mal, jetzt sind hinter mir die Türen ins Schloss gefallen und nun komme ich hier nie mehr raus. Trotzdem habe ich zwei Tage nach meiner Rückkehr ganz dreist ein neues Visum für Ungarn beantragt - und das haben sie mir auch bewilligt. Ich hatte nur meinem Vater davon erzählt, dass es nun konkret wird. Meine Mutter hätte die Sorge um mich nicht verkraftet. Und am Dienstag bin ich dann nach der ersten Montagsdemo in Leipzig nach Budapest geflogen und dort zur deutschen Botschaft gegangen. Dort standen schon Busse bereit, die über Wien nach Passau fuhren. Das war alles gut organisiert. Und so kam ich dann zu meiner Tante nach Frankfurt.“

Susanne Daubner

Dramatischer spielte sich die Flucht von der jetzigen Tagesschau-Sprecherin Susanne Daubner im Juni 1989 ab. Zusammen mit ihrem Freund hatte sie die Flucht genau geplant. Allerdings geriet sie doch in Lebensgefahr. Der Grenzfluss, den die beiden durchschwimmen wollten, war weit über die Ufer getreten und eiskalt. Zum Glück waren Susanne Daubner und ihr Freund Leistungsschwimmer. So konnten sie die Flucht trotzdem schaffen. Sechs Stunden schwammen die beiden in die Freiheit und kamen vollkommen unterkühlt am anderen Ufer an.

Marijam Agischewa

Die Schauspielerin Marijam Agischewa ergriff auch wenige Wochen vor dem Fall der Mauer die Gelegenheit zur Flucht aus der DDR. Sie kehrte einfach von einem durch die DDR-Staatsorgane genehmigten Aufenthalt in den USA nicht mehr zurück und lebte fortan im Westteil Berlins. Agischewa hatte zuvor in über 30 DDR-Filmen mitgespielt. Im Westen setzte sie ihre Karriere in Serien wie „Wolffs Revier“, „Das Traumschiff“ und „Dr. Sommerfeld – Neues vom Bülowbogen“ fort