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Reportage

Wo ist Dirk? Spurlos verschwunden seit 35 Jahren

Diese Frage stellt sich Heidi Stein seit dem 10. März 1979 jeden einzelnen Tag. Es war der Tag, an dem ihr Sohn verschwand. Jetzt ermittelt die Kripo erneut

Sie gibt nicht auf 

Die Suche nach ihrem spurlos verschwundenen Sohn Dirk beschäftigt Heidi Stein täglich, verfolgt sie oft bis in den Schlaf. „Ich werde nicht aufhören zu suchen. Das kann ich als Mutter einfach nicht“, sagt die 63-Jährige mit fester Stimme. Mittlerweile sucht sie schon seit 35 Jahren. Es gibt Menschen, die Heidi Stein deshalb für verrückt halten. Und es gibt welche, die sie dafür mit dem Tod bedrohen.

Hoffnung

Auf dem Wohnzimmertisch hat Heidi Stein mehrere Ordner ausgebreitet. Kopien ihrer Stasi-Akten, Fotoalben, Zeitungsartikel. Sie hat alles gesammelt, betreibt einen Internet-Blog über Dirk (www.dirkvermisst.blog.de), dessen Verschwinden am 10. März 1979 zu einem der spektakulärsten Vermisstenfälle der DDR wurde.

Unzählige Male schon hat sie diese Geschichte mit den vielen offenen Fragen erzählt. Heidi Stein sitzt in ihrem kleinen Holzhaus in Isenbüttel (Niedersachsen) vor dem Berg an Unterlagen und sagt, wie beschwörend: „Jede Veröffentlichung könnte einen neuen Hinweis bringen. Vielleicht bewegt es die, die etwas wissen, die Wahrheit zu sagen.“

Sie schöpft auch neue Hoffnung, weil nun, ein halbes Menschenleben später, die Kripo Gifhorn im Fall Dirk neu ermittelt. „Ich weiß nicht, was dabei herauskommt, aber ich bindankbar, dass die Sache jetzt in guten Händen ist.“ Den Behörden im Osten traut Heidi Stein, die aus  Görlitz stammt, das nicht mehr zu.

Kripochef Jürgen Schmidt hat die zu dem Fall vorhandenen Stasi-Akten selbst mit einem Kollegen in Berlin gesichtet. Er sagt: „Mit gewisser Wahrscheinlichkeit war Dirks Verschwinden kein Unglücksfall.“

Verschollen

Es war ein kalter Wintertag und Heidi Stein, damals verheiratete Schiller, ihr Ehemann Rolf, Tochter Silvia, 6, und Sohn Dirk, 3, genossen den ersten gemeinsamen Winterurlaub im Harz-Städtchen Stolberg. Eigentlich hatte das Görlitzer Ehepaar, sie Freizeitpädagogin, er Fahrer im Kohlekraftwerk, vom FDGB eine Reise ins Ergebirge bekommen.

Doch die wurde wegen zuviel Schnee kurzfristig abgesagt. Im Harz lag auch jede Menge Schnee. Einen Tag vor der Abreise aus Stolberg machte die Familie noch einen Ausflug zur Heimkehle-Höhle zwischen Rottleberode und Uftrungen. Die Höhle hatte noch nicht geöffnet, auf dem Parkplatz nur ein anderes Auto, ein blauer Moskwitsch eines fremden Paares.

Dann geschieht das Drama: Ehepaar Schiller lässt die Kinder spielen, für wenige Minuten nur sind sie außer Sicht. Als die Höhle kurz darauf öffnet, fehlt der Junge. Trotz massiver Suchaktion durch die Polizei Sangerhausen findet sich keine Spur. Der blaue Mosquitsch ist auch nicht mehr da.

Verhaftet

Heidi und ihr Mann, die in den Jahren zuvor bereits den Tod zweier Söhne zu verkraften hatten, mochten sich mit der Mutmaßung der Polizei, Dirk sei wohl ertrunken und abgetrieben, nicht zufriedengeben. Kann man so trauern, wieviel kann man ertragen? Die  Stasi trat auf den Plan.

„Die wollten das unbedingt als Unglücksfall deklarieren“, sagt Heidi Stein, „dabei könnte Dirk genauso gut entführt worden oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Vielleicht hat man ihn geschnappt und weggegeben, vielleicht wurde er zwangsadoptiert.“

Die Stasi sagte ihr, die Ermittlungen seien eingestellt, sie solle ihr Kind für tot erklären. „Ich habe den Mann rausgeworfen“, erinnert sich Heidi Stein. Der Wunsch, die DDR zu verlassen, wurde immer größer, die Familie stellte einen Ausreiseantrag, auch für Dirk, und informierte über eine Cousine in Niedersachsen die Westmedien und den DRK-Suchdienst.

Am 8. Dezember 1982 wurde das Ehepaar Schiller verhaftet. Sie hatten gerade ihr jüngstes Kind, Claudia, in die Kita gebracht. Viereinhalb Jahre Bautzen – wegen Paragraph 99, landesverräterischer Nachrichtenübermittlung.

Nach fünfzehn Monaten Haft wurden die Schillers freigekauft, durften im Mai 1985 mit den Töchtern in den Westen. Sie ließen sich in Niedersachsen nieder. Heidi Steins Ehe mit Rolf Schiller zerbrach Ende der 80er.

Vertuscht 

Doch sie kämpfte weiter. Sie muss heute regelmäßig zum Psychologen, sie fühlt sich von der Stasi verfolgt. Das überrascht nicht. Nach der Wende sah sie ihre Stasiakten ein. Ein Satz darin durchfuhr sie wie ein Blitz. Die Zentrale Koordinierungsgruppe der Staatssicherheit in Berlin schrieb an die Leipziger Bezirks-Kollegen in Sachen blauer Moskwitsch: „Bei möglicher Identifizierung sind keinerlei Maßnahmen einzuleiten. Fehlmeldung ist zu geben.

Leiter der Abteilung Uhlmann, Oberst“. Ebenso merkwürdig: die falsche Angabe in der Ermittlungsakte, Dirk sei statt 1979 erst 1983 und statt im Harz in Ungarn verschwunden. 1988 versuchte ein Verwaltungsbeamter, Dirks Meldedaten zu löschen, so als habe er nie existiert. In den vorhandenen Akten hat Kripo-Chef Jürgen Schmidt aber bislang keine Anhaltspunkte zu einer Verstrickung der Stasi in das Verschwinden Dirks gefunden.

Bei Hinweisen zum Fall Telefon: 05371/9800

Unverzagt

Heidi Stein, heute Rentnerin, verfolgt eine weitere Theorie. 2011 bekam sie den Hinweis, dass Dirk auf seinen Babyfotos Roberto Yanez, Sohn von Honecker-Tochter Sonja, sehr ähnele. Heidi Stein: „Als Mutter klammere ich mich an alles. Robertos Biographie wirft ja einige Fragen auf.“

Hat er, wie Dirk, offene Fontanellen am Kopf, eine Laune der Natur? Ist sie verrückt, diese Fragen zu stellen? Kann man ein Trauma verarbeiten, wenn es keinerlei Antworten git? Heidi Stein hofft, dass die Wahrheit herauskommt. Sie sprach kürzlich mit Altbundespräsident Christian Wulff, den sie um Unterstützung bat.

Sie will auch Altkanzler Schröder und Präsident Putin schreiben, denn vielleicht, so ihr Gedanke, gibt es doch eine Verbindung zu dem blauen Mosquitsch. Sie will nichts unversucht lassen. Dirk lebt, daran glaubt sie. Bis auf weiteres ...