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Die Jugend aus der DDR

„So sehen wir das“

Fünf junge Menschen, aufgewachsen in Ostdeutschland, diskutieren auf Einladung von SUPERillu über Eltern, Stasi und darüber, was gut und was schlecht war

Welche Gefühle habt ihr, wenn ihr an eure Kindheit in der DDR zurückdenkt?

Tilo: Ich muss sagen, dass ich richtig froh bin, in der DDR aufgewachsen zu sein. Mir hat nichts gefehlt. Für mich war wichtig, dass wirklich vieles gemeinsam unternommen wurde.

Nadine: Stimmt! Wir machten viel Sport, und auch in der Schule wurde viel organisiert. Wir hatten Pioniernachmittage - dadurch haben wir Kinder gelernt, uns zu organisieren.

Anja: Das waren schon lustige Zeiten. Jeder hatte seine Aufgabe. Toll war auch der Hort. Heutzutage tun sie so revolutionär, wenn es um Ganztagsschulen geht. Aber die haben wir damals schon gehabt. Fast alle Schüler waren ja im Hort. Was übrigens gut für den Klassenzusammenhalt war.

Glaubt ihr, dass dieses Gemeinschaftsgefühl heute nicht mehr so stark vorhanden ist?

Tilo: Das ist schon zu spüren. Wir hatten damals schon in der Krippe mit Gleichaltrigen Kontakt. Auch in der Schule ging es darum, etwas zu machen, für das sich alle interessieren. Da hat man sich eben auch am Nachmittag in Arbeitsgemeinschaften getroffen.

Was unterscheidet euch von Gleichaltrigen aus dem Westen?

Nadine: Ich finde ehrlich, dass uns nichts unterscheidet. Mein Freund ist Westdeutscher. Vielleicht haben wir unterschiedliche Erinnerungen an unsere Kindheit, aber sonst kann man da nichts mehr feststellen. Vor zehn Jahren hätte ich vielleicht noch gesagt, dass es große Unterschiede gibt, aber jetzt ist das kein Thema mehr.

Sascha: Ich muss aber sagen, dass ich schon noch merke, ob jemand aus dem Osten oder Westen kommt. Teilweise erkenne ich es am Dialekt und manchmal auch, so böse es klingt, am arroganten Unterton.

Tilo: Das kann man sicherlich nicht so verallgemeinern, aber ich habe auch den Eindruck, dass die Ostdeutschen sozialer eingestellt sind. Das kam durch das Gruppengefühl.

Caroline: Ja, die soziale Kompetenz ist hier in Ostdeutschland schon ein wenig ausgeprägter. Den Unterschied merkt man vielleicht nicht so stark bei unserer Generation, aber bei den Älteren ist diese Eigenschaft doch oft noch zu merken.

Seid ihr der Meinung, dass euch das Leben in DDR in gewisser Weise geprägt hat?

Anja: Viele Gleichaltrige aus dem Westen sind anders erzogen worden. Bei uns war es selbstverständlich, dass die Frauen spätestens nach einem Jahr Babypause wieder arbeiten gehen würden. Ich kenne aber viele Mädels aus dem Westen, die sich das gar nicht vorstellen können.

Nadine: Ja, das stimmt. Ich glaube, dass junge Frauen aus dem Osten sich viel mehr selbst verwirklichen wollen. Bei uns gehört es einfach dazu, dass man seinen Beruf nicht völlig aufgibt, nur weil man eine Familie gründet.

Caroline: Für uns war es eben alltäglich, dass Mutti gearbeitet hat und nicht nur für das Kind da war. Wir mussten lernen, Aufgaben im Haushalt zu übernehmen.

Könnt ihr euch an den Moment erinnern, als die Mauer fiel?

Anja: Ich weiß es noch wie heute. Mein Vater kam nach Hause und erzählte, dass er gerade im Westen gewesen sei. Natürlich habe ich ihm nicht geglaubt. Aber als dann am nächsten Tag nur drei Kinder im Unterricht erschienen, wusste ich, dass doch etwas Großes passiert sein musste.

Nadine: Wir saßen alle zusammen auf einer Geburtstagsfeier, als jemand reinstürmte und meinte, wir sollen sofort den Fernseher anmachen. Wir konnten kaum glauben, dass da gerade wirklich die Mauer fiel.

Tilo: Ich kann mich noch gut an die Sonderzüge, die aus meiner Heimatstadt in den Westen fuhren, erinnern. Da kam es zu Szenen, die ich als Kind überhaupt nicht verstanden habe. Es war so eng, dass die Leute ihre Kinder oben in die Gepäckablage gelegt haben. Unglaublich!

Wie waren eure ersten Eindrücke vom Westen?

Caroline: Eigentlich war es eine Reizüberflutung. Alles war so bunt und hat so anders gerochen. Man konnte sich gar nicht entscheiden, wo man zuerst hingucken sollte. Melonen, Schokolade, Cola? Als Kind kam mir das alles vor wie das Schlaraffenland.

Tilo: Ich werde nie vergessen, wie ich am Schaufenster unseres alten Konsums stand und plötzlich Westsachen vor Ort waren! Alles gab es plötzlich im Überfluss. Als diese Anfangseuphorie weg war, hat man erst gesehen, was eigentlich um einen herum passierte. Meine Eltern wurden arbeitslos, die Industrie in der Stadt platt gemacht. Das hat viele Leute zum Umdenken gebracht. Sie sahen, dass in der DDR zwar nicht alles toll war, aber sie hatten einen sicheren Job, eine gewisse Sicherheit. Und die fehlt heute.

Denkt ihr, dass man einige Aspekte der DDR in die heutige Gesellschaft integrieren könnte?

Tilo: Ich denke schon, dass es da einige Dinge gibt. Es wurde von heute auf morgen einfach alles aus dem Westen übernommen, ohne groß darüber nachzudenken. Man holt 40 Jahre ja nicht in ein paar Wochen auf. Man hätte danach gehen sollen, was für alle günstig ist. Dinge, die beispielsweise im DDR-Schulsystem gut waren, hätte man vielleicht auch an Westschulen etablieren können. Heute gibt es den Hort zwar auch noch, aber sozial schwache Familien können ihn sich nicht leisten.

Sascha: Meiner Meinung nach wurde uns das System der Bundesrepublik auferlegt. Das lief alles viel zu schnell.

Nadine: Davon halte ich gar nichts. Meine Eltern sind jetzt viel glücklicher. Ich wüsste auch nicht, was man zurückhaben will. Man hatte beruflich wenig Möglichkeiten und durfte nicht überall dorthin fahren, wo man hin wollte.

Anja: Genau. Als meine Mutter das erste Mal nach Mallorca gereist ist, war sie so glücklich. Ich werde das nie vergessen. Und kaufen konnten wir uns in der DDR letztendlich auch nichts.

Wurde in eurer Kindheit über Stasi und Politik gesprochen?

Anja: Klar, oft. Aber nach der Wende wollten meine Eltern nie in ihre Akten schauen. Sie wollten einfach nicht wissen, welche Nachbarn sie wann und wo bespitzelt hatten. Meine Mutti sagt immer: Das bleiben ja meine Nachbarn, mit denen ich weiter leben werde und letztendlich auch muss.

Nadine: Die Stasi war ständig ein Thema. Fast jede Geburtstagsfeier endete mit einer Streiterei darüber. Mein Vater war Lehrer und hatte ständig Ärger, weil er nicht DDR-konform war. Aber meine Eltern wollten in ihre Akten auch nicht hineinschauen.

Anja: Es war ja ihr halbes Leben. Letztendlich waren sie in der DDR eingesperrt. Sie hatten einfach keine andere Wahl. Sie mussten sich mit dem System und mit den Leuten, die für das System arbeiteten, arrangieren.

Tilo: Bei uns war das in der Familie gar nicht so ein großes Thema. Aber ich kann mich noch erinnern, dass man mich in eine Schule für NVA-Zukünftige schicken wollte. Ich wollte aber gar nicht. Dann gab es ein Gespräch mit Menschen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Die haben mich dann drauf hingewiesen, dass ich damit große Möglichkeiten hätte. Dass ich trotzdem nicht wollte, haben sie nur schwer akzeptiert. Ich war zwar noch ein Kind, aber ich habe schon gemerkt, dass massiv Druck ausgeübt wurde.

Redet ihr mit euren Eltern jetzt noch darüber? Wollt ihr wissen, was damals gewesen ist?

Caroline: Ja, auf jeden Fall. Es ist wichtig, dass das Thema aufgearbeitet wird. Da ich gar nicht so viel mitbekommen habe, ist es für mich wichtig, die Geschichte jetzt aufzuarbeiten.

Sascha: Ich diskutiere mit meiner Familie viel darüber, auch weil ich zur Wendezeit noch sehr jung war. Ich arbeite das Thema jetzt erst so nach und nach auf.

Seid ihr stolz, Ostdeutsche zu sein?

Nadine: Ostdeutsch - das gibt's doch gar nicht!
Anja: Ich bin halt Ostdeutsche. Und das ist wahrlich kein Nachteil.
Tilo: Genau. In gewisser Weise ist es etwas Besonderes, weil man in einer Zeit gelebt hat, die nie mehr zurückkommt. Wir waren Teil einer Geschichte, die nicht jeder mitmachen konnte. Das ist schon toll.